Donnerstag, 17. Januar 2013

Kapitel 5



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Als Eliza in ihrer kleinen Kammer erwachte hatte sie Kopfschmerzen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.  
Von unten hörte sie ihre Mutter rufen: „Eliza, komm runter. Du musst gleich in die Schule!“
Schule? Nicht arbeiten im Herrenhaus? Gott sei dank, es war nur ein Traum gewesen. Aber er war so intensiv und real. Sie konnte immer noch das Licht auf ihrer Haut spüren und sah immer noch Lennons Augen. Dann lachte Eliza beruhigt auf. Alles war noch beim Alten. Alles war gut. Sie lag in ihrem Bett, ihre Mutter war schon wieder am Nörgeln und sie musste gleich in die Schule.
Da sah sie plötzlich ein Blitzen neben sich auf dem Kissen. Vorsichtig nahm sie es auf. Es war eine dünne goldene Kette mit einem kleinen Amulett. Es zeigte zwei Hände, die einen Stern umfasst hielten.
Die Jahre vergingen, und Eliza war nun 16 Jahre. Zu Hause hatte sich eigentlich nicht viel verändert. Außer vielleicht, dass ihre Mutter mit der Zeit immer unleidlicher wurde. Sie war ständig am Meckern und stand schon morgens unzufrieden auf. Eliza war immer froh, wenn sie das Haus in aller Frühe verlassen konnte. Immer noch ging sie jeden Tag in die Schule. Aber jetzt nicht mehr als Schülerin, sondern als Hilfslehrerin. Mrs. Shuman hatte Wort gehalten und dafür gesorgt, das Eliza an der kleinen Dorfschule ihre Ausbildung machen konnte. Eigentlich sollte Eliza glücklich sein, aber sie war es nicht. Die Arbeit machte ihr keinen Spaß. Sie hasste die Kinder, die sich ständig über sie lustig machten und einfach so furchtbar dumm waren. Wenn ihnen Eliza etwas erklären wollte, lachten sie nur und hörten nicht zu. Es war frustrierend. Kein Wunder, dass Eliza sich wieder in ihre eigene Welt flüchtete. Die Schule hatte eine kleine Bibliothek und alle Bücher, die dort in den Regalen standen, hatte Eliza schon mehrfach gelesen. Stundenlang konnte sie sich hier verkriechen und in die Welt der Romane und Geschichten abtauchen. Auch heute saß sie wieder auf der Fensterbank und hielt ein Buch in den Händen.
„Eliza? Kind, bist du da?“ Eliza seufzte, als sie die Stimme ihrer alten Lehrerin hörte.
„Ja, Mrs. Shuman, ich bin hier.“ Eliza klappte schweren Herzens das Buch zu und stand auf.
„Ach, diese Treppen. Bald schaffe ich das nicht mehr.“ Mrs. Shuman kam auf ihren Stock gestützt in die Bibliothek.
„Ich muss mal mit dir reden, mein Kind“, die alte Frau schlurfte schwerfällig zu dem Sessel. „Komm, setz dich zu mir“, sagte sie.
„Was ist denn los? Soll ich wieder eine Ihrer Stunden übernehmen?“ Immer öfter in der letzten Zeit musste Eliza für die alte Lehrerin einspringen, mit deren Gesundheit es immer mehr bergab ging.
„Nein, diesmal nicht.“ Mrs. Shuman seufzte. Es fiel ihr nicht leicht, das zu sagen, was ihr schon lange auf der Seele lag. Aber es musste sein.
„Ich werde weggehen von hier, hab meine Stelle gekündigt. Ich schaff es einfach nicht mehr. Du muss dir etwas anderes suchen.“
„Wie, gekündigt? Was soll denn aus mir werden?“ Eliza sprang auf und schaute zornig auf die alte Frau herunter. Jetzt hatte sie jahrelang für die Lehrerin geschuftet, hatte im Grunde deren Arbeit gemacht und nun hieß es einfach: such dir was anderes? Eliza konnte es nicht glauben.
„Nun beruhig dich doch erstmal. Und tu doch nicht bitte so, als ob es dir etwas ausmachen würde, den Job hier zu verlieren. Ich weiß doch genau, dass er dir gar nicht so viel Spaß gemacht hat, oder?“ fragend schaute Mrs. Shuman das junge Mädchen vor sich an. Eliza war eine gute Schülerin gewesen und vor ein paar Jahren war Mrs. Shumann der Meinung, sie könne auch eine gute Lehrerin werden. Aber dem war leider nicht so. Eliza war klug, ohne Frage, aber sie hielt sich auch für etwas Besseres. Sie konnte einfach nicht mit den Kindern umgehen. Sie verachtete sie regelrecht. Natürlich merkten die Kinder das auch und tanzten Eliza auf der Nase herum. Das war auch der Grund, warum sie Eliza noch nicht zu der Prüfung als Lehrerin zugelassen hatte. Lehrerin war nicht der richtige Beruf für das Mädchen.
„Sie haben ja Recht“, leise sprach Eliza das aus, was sie selbst auch schon eine Weile wusste. Sie hasste es, jeden Morgen wieder das Schulgebäude zu betreten, sie hasste den Anblick der lachenden Kinder, die sich ständig über sie lustig zu machen schienen und sie hasste es, ihnen etwas beibringen zu müssen, was sie im nächsten Augenblick sowieso wieder vergessen würden. Nein, Lehrerin war nicht ihre Berufung. Aber was war es dann? Eliza wusste ja selbst nicht, was sie überhaupt wollte. Wenn es nach ihrer Mutter gehen würde, sollte sie nach Dublin gehen und bei Tante Mina arbeiten, ihrem Vater wäre es am liebsten, sie würde einen Bauern heiraten, dem er dann den Hof übergeben konnte und Mrs. Shuman wollte sie nicht mehr haben. Jeder wollte irgendetwas von ihr, aber nichts davon wollte Eliza.
„Aber was soll ich denn machen? Ich will nicht nach Dublin und hier gibt es doch keinen anderen Job für mich. Soll ich im Pub arbeiten?“ Eliza spielte auf die Dorfkneipe an. Der Wirt hatte sie schon einige Male, wenn sie ihren Vater mal wieder dort betrunken abholte, anzüglich angesehen und gefragt, ob sie nicht bei ihm „aushelfen“ wolle. Auf keinen Fall, dachte Eliza, niemals!
„Es gibt da noch eine andere Möglichkeit, mein Kind. Im Herrenhaus, bei den Robins, suchen sie jemanden, der sich mit Büchern auskennt. Die Bibliothek dort soll katalogisiert werden und dafür brauchen die wen. Das wäre vielleicht was für dich.“ Mrs. Shuman sah fragend zu Eliza.
„Im Herrenhaus? Bücher?“ Eliza musste sich erst mal wieder setzen. Ihre Gedanken rasten. Sich den ganzen Tag mit Büchern beschäftigen? Nur Bücher, keine Menschen? Das wäre ja ein Traum für sie. Aber nein, es ging nicht. Ihr Vater würde es niemals erlauben. Er hasste die Robins, die Engländer, die nach der Landenteignung in Irland vor ein paar Jahren in das alte Herrenhaus eingezogen waren. Er konnte es einfach nicht verzeihen, dass die Robins jetzt das ganze schöne Land um Dunvan verwalteten und die Bauern Pacht an sie zahlen mussten. Er war der Meinung, das Land solle den irischen Bauern gehören und nicht den vermaledeiten Engländern. Eliza interessierte sich nicht für Politik, aber sie wusste genug, um zu glauben, dass ihr Vater sehr gegen diese Arbeit sein würde. Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin.
„Soll ich mit deinen Eltern reden?“ Mrs. Shuman wusste, wie Elizas Vater von den neuen Besitzern des Herrenhauses dachte. „Würde das helfen?“
„Ich weiß nicht. Es wäre wohl besser, wenn ich das selbst mache.“ Eliza stand langsam auf und ging zur Tür.
„Nur wie ich das machen soll, weiß ich noch nicht“, flüsterte sie leise. Sie musste nachdenken. Und es gab keinen besseren Ort zum Nachdenken, als den Hügel von Tara.
Eliza hatte keine Angst mehr vor dem Wald, den sie jetzt im hellen Tageslicht durchquerte. Seit dem Traum von Lennon vor einigen Jahren hatte der Wald all seine Schrecken für sie verloren. Und der Hügel von Tara war zu ihrem Zufluchtsort geworden, wann immer sie über etwas nachdenken musste oder sie Sorgen hatte. Bald hatte sie die Lichtung im Wald erreicht. Tor zur Anderswelt hatte Lennon Tara genannt. Eliza fragte sich oft, ob die Begegnung wirklich nur ein Traum gewesen war. Ihr Verstand sagte „ja“ aber ihr Gefühl meinte etwas anderes. Und wo war die goldene Kette auf einmal hergekommen? Eliza trug sie seit dem Abend ständig verborgen unter ihrem Kleid. Niemandem hatte sie davon erzählt.
Nahe beim Lia Fáil, dem Schicksalstein, der mitten auf der Lichtung stand, ließ sie sich nieder. Tastend suchte ihre Hand nach der Kette. Vorsichtig umfasste Eliza das Amulett und schloss die Augen.   ...Fortsetzung folgt
 

1 Kommentar:

Bibilotta hat gesagt…

Eine wirklich schöne Geschichte bisher...